Mai 31, 2021

Das grosse Beenden Teil V

Entlastungslogiken

Wenn gewalttätiges Verhalten geboten ist, wird Mitleid als Verstoß gegen den Ehrenkodex der Gruppe ausgelegt – dies gilt für Schlägergruppen ebenso wie für Wirtschafts- und Forscher-Teams (Tierversuche, toxische Stoffe) die durch ihr Handeln für den Verbleib oder den Ausschluss (schlechte Bonität, schlechte Ratings, Drittmittel) von Mitglieder sorgen oder die Dritte zu kommunikativer Aktivität, Vergabe von Geldmitteln oder Käufen verleiten. Eine der dabei zum Einsatz kommenden Entlastungslogiken lautet: „Wenn wir es nicht tun, tut es halt jemand anderes!“ Dies erklärte bereits Rudolf Höss, der Kommandant von Auschwitz, nach dem Krieg. Der moralische Referenzrahmen verschiebt sich, und nach einer gewissen Zeit glauben die Gewalttäter, dass normal ist, was an anderen Orten verboten wird.

Der deutsche Militärstrategie Carl von Clausewitz ahnte etwas von dieser verschobenen Wirklichkeit, als er sagte, Handel und Krieg unterscheiden sich nicht wesensmäßig, sondern lediglich graduell. Von Clausewitz stellt eine Entsprechung zwischen Krieg und Geldverkehr her: „Die Waffenentscheidung ist für alle großen und kleinen Operationen des Krieges, was die bare Zahlung für den Wechselhandel ist.“ Er ging dabei anscheinend davon aus, dass selbst der Geldverkehr den Zweikampf nicht verbergen kann. Dazu ist der Geldverkehr nicht ausersehen. Die Diplomatie mag dazu bestimmt sein, an die Stelle des Krieges zu treten – doch der Geldverkehr ist ebenfalls ein Krieg. Der Handel ist keine Metapher für den Krieg, sondern betrifft die gleiche Realität.
Eine wirklich andere Realität wäre zum Beispiel die der Gabe. Die südamerikanischen Yanomami schätzen die Großzügigkeit und den nichtmerkantilen Warentausch aufs Höchste. Bei ihnen ist es sogar Brauch, die Güter der Toten vollkommen zu zerstören. Ein Verhalten, das besondere Brisanz bekommt, wenn wir uns unseren „zivilisierten“ Umgang mit Themen wie Erbschafts- und Vermögensbesteuerung anschauen.

Manch einer mag darüber hinaus behaupten, dass Handelspartner lebendig wertvoller sind als tot, wenn man Gefälligkeiten und Überschüsse mit ihnen tauscht. Das es also, im Kriegssinne gedacht, gar keinen Sinn macht, über den anderen zu obsiegen, ihn real oder im übertragenen Sinne außer Gefecht zu setzen oder sogar vollkommen zu eliminieren. Doch zum einen kann „Töten“ eben gerade bereits durch ein „Kaltstellen“ erfolgen, indem Kreditlinien gestrichen oder generell die Bonität des Partners öffentlich in Frage gestellt wird und zum anderen muss man sich schon auch die Frage stellen, warum Händler nicht ihre Konkurrenten umbringen sollten, wenn sie damit Erfolg haben? Warum sollten sie darauf verzichten, am Geschäft mit dem Tod zu verdienen, wenn der Krieg ihnen dazu die Möglichkeit bietet? Waffenproduzenten können gar kein Interesse am Ende der Gewalt haben.

Wie sieht es mit den massiven Einnahmen durch Psychopharmaka bei den Konzernen aus? Welche Produktionskapazitäten werden mit Hilfe von Maschinenverkäufen auf- und ausgebaut? Zur Abholzung von Regenwäldern, von Massentierhaltungen und –schlachtungen? Welche giftigen Abwässer werden irgendwo auf der Welt eingeleitet? Welche Produktionsrückstände oder ausgemusterte Geräte mit toxischen Anteilen werden final in armen Ländern deponiert? Sind dies am Ende des Tages keine gewaltvollen Handlungen?

Außerhalb Europas konnten Europäer in den vergangenen Jahrhunderten ohnehin tun, was auf dem alten Kontinent spätestens seit dem Dreißigjährigen Krieg nicht mehr möglich war. Kein General wäre auf den Gedanken gekommen, auch in Afrika müssten Zivilisten geschützt und Kriegsgefangene nach den Regeln der Genfer Konventionen und der Haager Landkriegsordnung behandelt werden. Heute stellt sich die gleiche Frage für die primitiven Digital- und Fortschrittsverweigerer.

In gewisser Weise ist der Handel ein kontinuierlicher Krieg von schwacher bis mittlerer Intensität, während der von der Politik mehr oder weniger im Zaum gehaltene Krieg meistens diskontinuierlich ist. Wandelt sich die „gütliche Realisation“ des Tausches in einen rasenden Wettstreit, kann der Handelskrieg ganz leicht zu einem echten Krieg. Menschlichen Beziehungen werden im Verborgenen von den Gesetzen des Krieges regiert. Sicherlich nicht nur – aber zu einem nicht unerheblichen Anteil.

Rückzug in die Zärtlichkeit

Die Menschheit hat den Kampf gegen die vermeintlich oder real feindliche Umwelt auf dem Planeten Erde verloren. Doch wir kämpfen weiter. Dass Kriege so lange dauern können, dass sie noch weitergeführt werden, wenn sie längst verloren sind, hängt mit dem tiefsten Triebe der Masse zusammen, sich in ihrem akuten Zustand zu erhalten, nicht zu zerfallen, Masse zu bleiben. Dieses Gefühl ist manchmal so stark, dass man es vorzieht, sehenden Auges zusammen zugrunde zu gehen, statt die Niederlage anzuerkennen und damit den Zerfall der eigenen Masse zu erleben.

Sich dessen bewusst zu werden könnte ein weitere wichtiger Schritt sein auf dem Weg sich aktiv mit einem militärischen Vorgehen auseinander zu setzen, das wir wirklich, wirklich bräuchten: den geordneten und sicheren Rückzug der gesamten Masse Mensch.

Der anhaltenden Logik eines noch andauernden Kampfes (obwohl wir ihn schon längst verloren haben), können wir eigentlich nur mit einem Rückzug vom Schlachtfeld begegnen. Das Ausrufen von Durchhalteparolen, von Forderungen nach mehr Ressourcen, mehr Unternehmer-/Kriegergeist, mehr Anstrengungen, mehr vom Alten würde geradewegs in die Totalvernichtung führen. Vielleicht stehen wir auch kurz davor, wenn wir uns die aktuellen politischen Entwicklungen anschauen.

Unser Kampf gegen den Klimawandel sollte einem Rückzug für das Klima weichen. Wie können wir unsere globalen Finanz- und Warenströme so zurückbauen, dass unsere Lebensweise für diesen Planeten wieder erträglich ist? Wären die dazu notwendigen sozialen und technologischen Innovationen nicht die eigentlich viel anspruchsvolleren und schwierigeren Innovationen als die, die wir für ein Weiter-so benötigten? Wie können wir es schaffen aus der Angst- und Argwohnspirale auszubrechen und statt Technologien der Kontrolle und Überwachung Technologien des Vertrauens und der gegenseitigen Hilfe zu entwickeln?

Wie können wie unsere Waffen- und Verteidigungssysteme und die dazu gehörigen Milliarden an Geldern runterfahren und umschichten? Hin zu mehr Hilfs-, Unterstützungs- und Heilungsprozessen?

Ich denke, dazu braucht es einen ehrlicheren und offeneren Umgang mit unseren „zivilisierten“ Formen von Gewalt und Krieg. Am Ende steht vielleicht die gemeinsame, globale Einsicht in unsere Verletzlichkeit und Sterblichkeit als menschliche Wesen auf diesem kleinen, blauen Planeten. Ein Rückzug auf das Mögliche des Menschen auf diesem Planeten. Vielleicht ist es ja auch genau das, was aktuell geschieht, wenn einzelne Menschen sich zurückziehen, in „Retreats“ gehen.

Vielleicht erleben wir dort doch nicht nur eine Fluchtbewegung ins Innere, einen Rückzug ins Private. Sondern die notwenige geistige und physische Vorbereitung auf einen viel größeren, gemeinsamen Rückzug. Einen gemeinsamen Rückzug der Menschenfamilie. Zurück auf eine friedfertigere Lebensweise. Eine Lebensweise, die nie völlig der Gewalt entsagen werden kann und wird, die es aber hoffentlich schafft, ihr Gewaltpotenzial und ihre gewaltvollen Handlungen wieder auf ein Maß zurückzuführen, dass es allen Kulturen erlaubt, sich zu kultivieren. Dass es auch anderen Lebewesen erlaubt, sich auf diesem Planeten entwickeln zu können.

Unsere lebensnotwendigen Biosphären, Atmosphären etc. brauchen unseren Rückzug. Leben und Lebendigkeit hat eine Eigenzeit, die sich nur teilweise im kriegerischen Treiben wiederfindet.

Die Alternative dazu besteht lediglich in der „Steigerung bis zum Äußeren“. Durch unser gegenseitiges, mimetisches, uns nachahmendes, Handeln und Begehren würde es zu einem finalen Aufschaukeln der Gewalt kommen. Bis hin zum Einsatz der kraftvollsten und zerstörerischsten Waffen- und Kampfsysteme, die die Menschheit jemals erfunden hat.

Wir stehen heute wahrlich vor dem Nichts. Der Nullpunkt ist nah. Auf der politischen Ebene, auf der literarischen Ebene, auf allen Ebenen. Dies ist der Zeitpunkt für den Rückzug.
Nur das Bewusstsein der unmittelbaren Bedrohung kann unsere mimetische Verhaltensweisen in verantwortliche Akte umwandeln. Für die Mimetik gibt es keine andere Lösung als ein gutes Vorbild.

Doch worin besteht dieses Vorbild? Was können wir tun, wenn es zu gefährlich ist, sich verwundbar zu zeigen?

Der Satiriker Nico Semsrott postete vor einigen Wochen einen Auszug aus einem Interview mit ihm. Dort berichtet er, dass es ihn furchtbar aufrege, dass man ihm nach seinem Auftritt in der Talkshow Maischberger vorgeworfen hat, nicht aggressiv genug aufgetreten zu sein. Danach gefragt, ob er aggressiver hätte sein müssen, sagt er in dem Interview: „Nö, muss ich überhaupt nicht. Ich muss mich dieser Konkurrenzgebarung und diesem Machogehabe nicht anschließen. Ich wünsche mir einen sanfteren und zärtlicheren Umgang miteinander. Auch wenn das wie ein Widerspruch klingt: Ich versuche mit aller Wucht und Härte, mehr Zärtlichkeit durchzudrücken.“

Ich denke, er meint es ernst.


Wie wir einst Angst gehabt haben vor der Leere, empfinden wir heute Abscheu vor dem Gedanken an Verlangsamung, Rückschritt, Rückzug, Begrenzung, Bremsung, Minuswachstum, Abstieg –
dem Hinreichenden.

Es liegt eine unvergleichliche Zartheit im Nichts.

Wir können Zärtlichkeit nicht besitzen. Wir bieten ihr unsere Gastfreundschaft an.

Es geht darum, die Gegenwart zu bejahen, sie zu bewahren und wiederzugewinnen, nicht darum,
zu „wachsen“, zu „entwickeln“ oder zu „optimieren“.

Es ist keine unmögliche oder unnütze Aufgabe, wenigstens einige der Frontkämpfer des „menschlichen“ Heeres zu benennen, nämlich die unmittelbaren Verantwortlichen für die wachsende anthropozentrische Katastrophe, jene, die direkt interessiert sind an der Niederlage der Erdverbundenen. Um nur mit den Verantwortlichen von zwei Dritteln der Treibhausgasemissionen zu beginnen (es sind lediglich 90 große Firmen): Chevron, Exxon, BP, Shell, Saudi Aramco, Gazprom, die norwegische Statoil, die brasilianische Petrobrás, die staatlichen Gesellschaften für die Kohleförderung in Ländern wie China, Russland, Polen. Danach kommen Namen wie Monsanto, Dupont, Syngenta, Bayer, Cargill, Bunge, Dow, Vale, Rio Tinto, Nestlé.

Die Erdverbundenen kämpfen demnach nicht gegen die „Zivilisation“, den „Fortschritt“, die „Geschichte“ oder das „Schicksal“ oder die „Menschheit“, sondern gegen diese eben genannten Größen. Sie sind es, die im Namen der „Menschen“ handeln.

Wir werden den Herausforderungen nur antworten können,
wenn wir unsere Denkweisen radikal ändern.

Je deutlicher wird, was sich abspielt, desto heftiger unsere Weigerung,
uns dessen bewusst zu werden.

Der abendländische Rationalismus operiert wie ein Mythos.
Wir versteifen uns weiterhin darauf, die Katastrophe nicht sehen zu wollen.
Weder können noch wollen wir die Gewalt in ihrer wahren Gestalt erkennen.

Von der Aufklärung bis heute hat keine Diskussion über Freiheit die Fähigkeit zu geologischen Interventionen bedacht, die die Menschen in dem Moment erwarben, als sie ihre Freiheit eroberten – und dass die beiden Prozesse aufs innigste verbunden waren.

Das Haus der modernen Freiheiten stützt sich auf einen wachsenden Konsum fossiler Brennstoffe. Der größte Teil unserer Freiheiten hing und hängt bis heute am intensiven Energieverbrauch.

Wir haben die Pflicht, Pessimisten zu sein.

Es ist der Rückzug, der rettet, nicht die Einmischung.

What do you do, after you stop pretending?

Es geht um das Schweigen.

Hier geht es zu Teil I Teil II Teil III Teil IV

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