Die Angst vor dem schwarzen Nichts
Das Übermaß an Dunkelheit
ist der Glanz des Sterns
George Bataille
Thackers These ist, dass das Problem, die Welt-ohne-uns zu denken, ein ebenso philosophisches wie politisches und kulturelles ist. In dem Zusammenhang sieht er „[…] Horror nicht unter dem Aspekt der Beschäftigung mit der menschlichen Furcht in einer menschlichen Welt (der Welt-für-uns), sondern als eine Art der Auseinandersetzung mit den Grenzen des Menschlichen angesichts einer Welt, die nicht nur eine Welt (für uns) und nicht nur eine Erde (Welt-an-sich), sondern auch ein Planet (Welt-ohne-uns) ist. Das bedeutet auch, dass es beim Horror nicht einfach um die Angst geht, sondern vielmehr um die rätselhafte Idee des Unbekannten.“ Der amerikanische Autor H.P. Lovecraft notierte dazu: „Die älteste und stärkste menschliche Gefühlsregung ist die Angst, und die älteste und stärkste Art von Angst ist die Angst vor dem Unbekannten.“
Thacker nutzt Horror als einen nichtphilosophischen Versuch, philosophisch über die Welt-ohne-uns nachzudenken. Es geht um die philosophischen Erkenntnisse, die in Dünsten, Absonderungen, Klumpen, Schleim, Wolken und Dreck lauern. Oder, wie es Platon ausdrückte, in Haar, Kot und Schmutz.
So kann ein erster Ansatz, das Undenkbare zu denken darin bestehen, die Dinge in ihren Bedeutungen exakt umzudrehen. Jedes Element einer schwarzen Messe, so beschreibt es Thacker, zielt auf eine exakte Umkehrung des katholischen Hochamtes – vom blasphemischen Anti-Gebet bis zur hocherotischen Hostienschändung. Besonders die schwarze Magie beruht auf der Fähigkeit des Hexenmeisters, die Mächte der Finsternis gegen die des Lichts und eine Reihe von Glaubensüberzeugungen gegen eine andere einzusetzen. Aber nicht immer ist das Gegenteil vom Licht der Schatten, oder das Schwarze.
Auch das Nichts (häufig auch mit Schwarz assoziiert) wurde Jahrhunderte lang als teuflisch betrachtet. Gott hatte alles geschaffen, also konnte Nichts nur mit dem Teufel im Bunde sein. Während sich das Satanische und Heidnische noch am Glauben und am Menschen orientierte, wohnte dem Nichts allerdings von Anfang an (!) ein kosmischer Pessimismus inne, ein Pessimismus, der später von Schopenhauer weiter ausgedeutet wurde.
Schopenhauers Begriff der Vorstellung entspricht der Welt-für-uns. Aber eine solche Vorstellung braucht ein Negativ, von dem es sich abgrenzt. Dieses allerdings nicht-existente äußere Etwas nannte er Wille.
Dämonische Kräfte
Um sich einer Welt-an-sich oder sogar einer Welt-ohne-uns zu nähern, gilt es das Nichtmenschliche zu erforschen. Aber nicht im Sinne von Flora und Fauna, sondern im Sinne der Negation, der Abwesenheit. Des absolut Andersartigen. Das Dämonische, das in allen Kulturen auf der ganzen Welt auftaucht, scheint eine weitere Zugangsmöglichkeit zu sein: Von seiner urwüchsigen Kraft als Hilfe und Hindernis, über das übernatürliche, intermediäre Geschöpf als Verführer, den modernen Dämonen, von der Psychoanalyse und Psychologie als Unbewusstes bezeichnet, bis hin zum zeitgenössischen Dämon, des sozialen und politisch Unverstandenen, des menschlichen Feindes („Dämonen sind andere Menschen“).
Sieht man die Dämonisierung des anderen Menschen als eine Ausweichbewegung, kann man durchaus die Vermutung anstellen, dass wir das Dämonische auf andere Menschen projizieren, weil wir dort zumindest noch die Hoffnung haben, ihrer habhaft zu werden, sie verstehen und irgendwie mit ihnen umgehen zu können.
Das unmenschliche Dämonische entzieht sich jedoch vollkommen unserer Vorstellungskraft. Oder noch schlimmer: Es existiert auch ohne uns. Ohne, dass wir es verstanden haben. Ohne, dass wir einen Zugriff darauf haben. Ohne, dass wir es jemals „bewirtschaften“ und Zugriff auf seine Kräfte und Energien haben werden. Sie zeigen sich nie selbst. Sind stets in und durch andere verkörpert. Diese Art von Dämon ist, nach Thacker, reine Kraft als reiner Fluss, da sie jedoch kein eigenständiges Ding ist, ist sie zugleich auch das reine Nichts.
Diese Beschreibung lässt sehr schnell an Energie- und Kraftflüsse denken. An Strom. Wenn wir uns vor Augen halten, dass die industriellen Revolutionen der vergangenen Jahrzehnte zumeist auf dem Wechsel von Energieregimen basierten, von Holz nach Kohle, von Kohle zu Öl, vom Öl zur Atomkraft und den erneuerbaren Energien, dann wird auch hier deutlich, dass der Versuch, die Welt-ohne-uns zu denken zum Kern unseres Wirtschaftens führt. Die Frage, mit welchen Energien haben wir es zu tun, wie nutzen wir Energien und wozu stehen sie im Zentrum unseres wirtschaftlichen Handelns? Ob es sich nun um Strom, um Nahrungsmittel (unserer leiblichen Energiezufuhr), um Geld oder Daten handelt – unsere Wirtschaftswelt ist um Energieflüsse herum, mit und durch sie organisiert.
So betrachtet könnte man im wahrsten Sinne des Wortes, von einer regelrechten Besessenheit sprechen. Einer Besessenheit von Energien/Dämonen. Die Kräfte, die uns die Naturwissenschaften (deren historische Wurzeln in der Alchemie und der Magie liegen) halfen, uns nutzbar zu machen, sind nunmehr die Kräfte, denen wir auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Ein zwei, drei Tage andauernder Blackout würde uns das sehr schmerzhaft vor Augen führen. Würden wir wochenlang ohne Strom auskommen müssen, würden wir ein vollkommen anderes Leben zu führen haben, als wir es heute tun.
Im Malleus maleficarum (Hexenhammer, 1486), dem damaligen „Standardwerk“ zur Hexenverfolgung wird auf akribischste Art und Weise beschrieben, wie eine Besessenheit verläuft bzw. festgestellt werden kann. „Die erste Stufe ist die psycho-physiologische Besessenheit, bei der der dämonische Geist in den Körper selbst einfährt und ihn beeinflusst. […] Die zweite Stufe bilden Fälle von epidemiologischer Besessenheit, welche die Beziehung zwischen Körper und Umwelt betrifft. […] Auf einer dritten Stufe findet sich schließlich eine abstraktere, klimatologische Besessenheit, bei der die Dämonen nicht nur Lebendiges, sondern auch Nichtlebendiges, nicht nur Beseeltes, sondern auch Unbeseeltes befallen.“ Wenn Thacker nicht von Dämonen und Besessenheiten sprechen würde, könnte man in seiner Darstellungen aus dem Hexenhammer auch eine kurze Geschichte der Elektrifizierung unseres Alltags herauslesen – von der Entdeckung des singulären Elektrizitätsflusses, von der Elektrifizierung der Infrastrukturen und Wohnungen bis hin zu den kleinen, unbeseelten, elektronisch betriebenen Geräten, die wir heute in unseren Hosentaschen mit uns herumtragen.
Bei der Hexenverfolgung wird allerdings noch ein anderer Zusammenhang deutlich: Fragen des Energieregimes waren immer auch schon Machtfragen. Während es im Falle der Hexen die männlich dominierten, kirchlichen Institutionen waren, die mit der Hexenverfolgung ihren Macht- und Deutungsanspruch geltend machten, so sind es heute die Kriege um Öl, Konflikte um Gas-Pipelines, Währungskriege etc. die diesen Zusammenhang mehr als deutlich machen.
Im Walten der Dämonen wurde schon immer zum einen eine Gefahr für das Gemeinwesen gesehen – zum anderen eine kraftvolle Machtquelle, im Falle ihrer Beherrschung. Dazu bedurfte es nicht erst in der Frührenaissance, aber insbesondere dort, einer neuen Sprache und eines neuen Begriffsrepertoires, um über das Übernatürliche nachzudenken. Es bedurfte „einer gewissen Poetik des Dämonischen“. Die Dämonologie – ob sie nun überzeugen oder kritisieren will – ist eine ebenso rhetorische wie theologische und juristische Angelegenheit.
Von Anfang an gab es eine Affinität zwischen der Technik (die heute unser Wirtschaftsleben definiert und bestimmt), magischen Artefakten, heiligen Werkzeugen oder Waffen und dem Übernatürlichen.
Wir nutzen und bearbeiten somit die materielle und immaterielle Welt, nutzen unsere psychischen und physischen Möglichkeiten, um Energien zu beeinflussen – auch auf die Gefahr hin am Ende selbst von ihnen regelrecht besessen und abhängig zu sein. Wobei unser Verstehen zwar immer tiefer in die Nutzbarkeiten reicht, unser finales Verstehen, was eigentlich genau vorgeht, ausbleibt.
Genauso wenig, wie wir heute wissen, was elektrischer Strom eigentlich genau ist, wir sein Vorhandensein aber immer präziser nutzen, genauso wenig haben wir in Goethes Faust letztendlich verstanden, wer oder was Mephisto, das teuflisch Dämonische eigentlich ist. Somit sieht Thacker das Dämonische als eine Grenze unseres Denkens, eine Grenze, die „nicht durch das Sein oder das Werden konstituiert wird, sondern durch das Nichtsein beziehungsweise durch das Nichts.“ Es ist ein metaphysisches Problem. Wie soll dieses Nichts (nihil negativum), das über die reine Abwesenheit von etwas (nihil privativum) hinausgeht gedacht werden? Wie kann das Undenkbare gedacht werden?
Einige Leserinnen und Leser fragen sich jetzt sicherlich, was diese Fragen und Gedanken mit praktischen, wirtschaftlichen Herausforderungen im Angesicht des Klimawandels oder der Corona-Krise zu tun haben. Nun, was ich nicht denken oder in Sprache fassen kann, kann ich als Mensch auch nur sehr schwierig planen und bearbeiten.
Wenn jedoch mögliche Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit auf der anderen Seite des Denkens liegen, sollten wir in Erwägung ziehen, dass alles, was wir mit unseren bestehenden Denk- und Handlungswerkzeugen bearbeiten, kaum Wirkung zeigen wird. Die Zaubersprüche, Denk- und Handlungsweisen, die uns halfen, die Geister der Technologien zu rufen, die uns dazu befähigt haben, den Planeten so zu bearbeiten, dass wir Gefahr laufen, unsere Lebensgrundlagen zu zerstören, sind nicht zwangsläufig die gleichen Zaubersprüche, Denkweisen und Handlungen, die uns dabei helfen, diese Besessenheiten wieder loszuwerden oder zumindest einzuhegen. Womöglich braucht es den Schritt ins vollkommen Unbekannte und Undenkbare. Andere Zauberkräfte. Andere Philosophien.
Okkulte Philosophie
Eine dieser „anderen“ Philosophien, so Thacker, stellt die okkulte Philosophie dar. Einer ihrer Wegbereiter war Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim. In seinem Werk De occulta philosophia libir tres, erstmals 1531 publiziert, ist die Grundaussage, dass „es einen fundamentalen Unterschied zwischen der Welt, wie sie uns erscheint, und den „verborgenen“ oder okkulten Eigenschaften der Welt gibt, die, obwohl sie sich nicht offenbaren, eine umso wichtigere und wesentlichere Rolle für ein tieferes Verständnis der drei Welten (der elementarischen, der himmlischen und der intellektuellen) spielen. “[…] Tatsächlich gibt es Stellen im Text, an denen eine Welt beschrieben wird, die sich geradezu weigert, in irgendeiner Weise offenbart zu werden,“ so Thacker.
„Der humanistischen Welt-für-uns, einer anthropozentrischen Welt nach unserem Ebenbild,“ so Thacker weiter „steht hier die Vorstellung gegenüber, dass die Welt okkult und verborgen ist, und zwar nicht in einem relativen, sondern im absoluten Sinne. Etymologisch betrachtet ist das „Okkulte“ (occultus; occulere) etwas, das verborgen, verdeckt und von Schatten umgeben ist.“
Dabei gibt es zwei Möglichkeiten, wie es zum Verstecktsein kommt: Wir Menschen können es sein, die aktiv Dinge verstecken und enthüllen, die aufgrund ebendieses Versteckens und Enthüllens für uns einen gewissen Wert als Wissen erhalten.
Die andere Verborgenheit ist eine Verborgenheit der Welt, in die wir geworfen sind, einer Welt, die unabhängig davon, wie viel Wissen wir über sie zusammentragen, immer einen Rest zurückbehält, der unsere Fähigkeiten, ihre Verborgenheit zu enthüllen, übersteigt. Diese Welt, schlägt Thacker vor, könnte als die okkulte Welt, als die Verborgenheit der Welt benannt werden (oder in Anlehnung an den Soziologen Hartmut Rose als eine unverfügbare Welt).
Doch wo genau verläuft die Grenze? Was versteckt der Mensch, was fördert er ans Licht? Das moderne, naturwissenschaftliche Denken wäre kaum möglich gewesen, wenn es ihr nicht u.a. darum gegangen wäre, in die Verborgenheit der Welt vorzudringen, und dieser Verborgenheit immer mehr Geheimnisse zu entreißen.
Francis Bacon betrieb seine naturwissenschaftliche Forschung in England im 17. Jahrhundert mit eben genau dieser Zielsetzung. Dabei propagierte er seine neue empirische Untersuchungsmethode mit einer ausgesprochen gewalttätigen Sprache: Man solle die Natur ”auf ihren Wegen mit Hunden hetzen”, man solle ”sie sich gefügig und zur Sklavin machen”, schrieb Bacon. Die Natur solle ”unter Druck gesetzt werden“, und das Ziel des Wissenschaftlers sei es, ”die Natur auf die Folter zu spannen, bis sie ihre Geheimnisse preisgibt.” Die Idee, dass der Naturwissenschaftler die Natur beherrschen solle, ist jedoch nicht nur in den Werken Bacons, sondern auch bei Descartes, Newton und anderen ”Gründervätern” der modernen Naturwissenschaft zu finden. Damals, wie auch heute noch, sorgte die Naturwissenschaft für eine Aneignung der Welt-an-sich-für-uns.
Diese Aneignung lässt sich insbesondere heutzutage auch als eine zunehmende Unverfügbarkeit lesen. Je mehr die industrialisierte Menschheit mit ihren Aneignungen weiter in die Verborgenheit der Welt vordrang, bekam sie zum einen eine Ahnung davon, was sie alles noch nicht verstanden hatte. Zum anderen entzog sich die Natur, die Welt-an-sich auch der weiteren Erforschung durch Tod. Das Massentiersterben entzieht diese Seinsweisen auch dem Erforschtwerden. Das Rücksichtslose vordringen in Regenwälder, die industrielle Landwirtschaft und viele andere Formen der Weltaneignung dünnen die Welt immer mehr aus – wodurch sie sich uns auch in ihrem potenziellen Erkennen verschließt. Ähnlich, wie eine Blume, die bei Gefahr ihre Blüten schließt. Oder ein Hase, der sich totstellt, bis die Gefahr vorüber ist. In diesem Falle ist jedoch der Tod, das Sterben real.
Auch wenn die okkulte Philosophie eine Vorform der modernen Naturwissenschaft ist, so war (und ist) sie doch auch anders in ihrem Vorgehen und in ihrer Sicht auf die Welt. Die Naturwissenschaft schrieb und schreibt sich auf die Fahnen, der Welt ihr Wissen zu entreißen, während es insbesondere der heutigen, okkulten Philosophie um die Welt als Ganzes geht, die verborgen und in letzter Instanz nur in ihrer Verborgenheit erkennbar ist. Sie ist eine Form des Philosophierens und Meditierens über die Welt.