Juni 26, 2021

Der Horror der Philosophie Teil III

Magische Grenzen

Während die traditionelle okkulte Philosophie historisch im Renaissance-Humanismus wurzelt, ist die neue okkulte Philosophie antihumanistisch und ihre Methode ist die Offenbarung des Nichtmenschlichen als Grenze des Denkens. Diese Grenzen des Denkens und Denkbaren zu erforschen sollte am Anfang dessen stehen, wie wir in die Welt hineinwirken. Ansonsten laufen wir Gefahr, diese Grenzen nicht als Grenzen zu akzeptieren und durch mehr Wissen diese Grenzen vermeintlich überwinden zu können. Zum Preis der Zerstörung allen Lebens und aller lebendigen Zusammenhänge.

Nur dort, wo wir Grenzen ziehen, vorhandene Grenzen anerkennen und bereit sind, nicht über diese hinauszugehen, kann es ein sicheres, lebendiges Miteinander mit anderen Lebewesen der Welt-an-sich geben. Eugene Thacker beschreibt Möglichkeiten der Grenzziehungen und der damit einhergehenden Erkenntnismöglichkeiten. Zum einen gibt es die spielerischen Grenzziehungen, wie sie auch bei Johan Huizinga beschrieben werden. Sogenannte „Zauberkreise“ ermöglichen ein anderes Verhalten – innerhalb und außerhalb des Spielfeldes: „Die Arena, der Spieltisch, der Zauberkreis, der Tempel, die Bühne, die Filmleinwand, der Gerichtshof, sie sind allesamt der Form und der Funktion nach Spielplätze, d.h. geweihter Boden, abgesondertes, umzäuntes, geheiligtes Gebiet, in dem besondere eigene Regeln gelten. Während ein solcher „Spielplatz“ im naturwissenschaftlichen Sinne wohl einem Labor der Wissensaneignung entspricht, ist ein Zauberkreis im okkultischen Sinne eher ein Raum der Begegnung mit Kräften, die ansonsten im Verborgenen bleiben.

Heute scheint allerdings die allerneueste Wissenschaft zum neuen Okkultismus (Quanten) und elektromagnetische Laborkammern (CERN) zu den neuen magischen Kreisen geworden zu sein. Trotz aller Abgrenzungen und Tore in andere Welten, werden wir es womöglich dennoch niemals gelingen, in alle Welten vorzudringen, die uns umgeben, so wie es der Wissenschaftler Crawford Tillinghast in der Kurzgeschichte „From Beyond“ von H.P. Lovecraft formuliert:
„Mit fünf schwachen Sinnen geben wir vor, den grenzenlos komplexen Kosmos zu begreifen, doch andere Wesen mit einem erweiterten, leistungsfähigeren oder unterschiedlichen Sinnesspektrum sehen vielleicht nicht nur die Dinge, die wir sehen, völlig anders, sondern sehen und studieren vielleicht ganze Welten aus Materie, Energie und Leben, die nahebei liegen und doch mit den Sinnen, die wir haben, nie entdeckt werden können.“ Trotz der Nutzung von Wissenschaft und Technik als „magische Kreise“.

Doch gerade in „From Beyond“ wird deutlich, dass diese anderen Welten und Kräfte gar nicht außerhalb unserer liegen, dass es eine Trennung zwischen Natürlichem und Übernatürlichem gibt, sondern dass beides gleichzeitig vorhanden ist. Besonders bedrohlich kann dies allerdings dann werden, wenn diese anderen Kräften aus unerklärlichen Gründen in unsere Welt hinein diffundieren. Dies können einzelne, unerklärliche Erscheinungen oder Wesen sein, wie im Falle des Manga-Klassiker Uzumaki von Junji Itōs. Dort dringt eine abstrakte Spiralform in immer mehr Lebensbereiche vor und ein. Sie taucht plötzlich in der Natur auf, dann in den Körpern der Menschen, der Architektur, Raum etc.

Unmenschliches Denken

„Das abstrakte Symbol und die  konkrete Manifestation sind nicht voneinander zu trennen, was so weit geht, dass die äußere Welt der Manifestationen der Spirale die ideelle Welt der Spirale als Idee „infizieren“ beziehungsweise sich auf diese ausdehnen kann. In Itōs Manga ist die Spirale mehr als ein geometrisches Symbol und mehr als ein Muster in der Natur – sie ist gleichbedeutend mit dem Denken selbst. Unter „Denken“ sind hier freilich nicht einfach die inneren, privaten Gedanken eines Individuums zu verstehen. Die Spirale-als-Denken ist vielmehr auch das „Denken“ als etwas Unmenschliches, „Denken“ als Entsprechung der Welt-ohne-uns. In diesem Sinne legt Uzumaki nahe, dass das Absolute entsetzlich ist, und das auch, weil es vollkommen unmenschlich ist.“

Unser abstraktes rationales, Denken stammt womöglich aus einer anderen Welt, oder, wie es Lovecraft auch nennt: Aus einem „kosmischen Grauen“. Das, was da in uns durch uns denkt, kann aber auch andere Formen und Ausprägungen annehmen, als abstrakte Spiralen. Thacker geht im weiteren Verlauf auf Ausformungen wie Schleim und Sekrete ein, Pilze, Dünste, Wolken und Nebel. (Lebens-)Formen, denen wir zumeist mit Ekel oder Vorsicht begegnen. Doch auch in ihnen können Intelligenzen existieren. Womöglich die eigentlichen Intelligenzen, die uns dazu bringen, ihnen zu dienen – wie das Erdöl, dass uns letztendlich dazu gebracht hat, es zu fördern und zu veredeln, wie es in der Kurzgeschichte „Der Schwarze Gondoliere“ von Fitz Leibers geschieht: „Öl enthalte in sich die schwarze Essenz allen Lebens […], das je bestanden hatte“ und sei „in Wirklichkeit ein großer, tiefer Friedhof der gesamten unheimlichen Vergangenheit, mit schwärzesten Gespenstern.“

Die Theorie der Person (Daloway), die diesem Geheimnis auf die Schliche kommt „[…] gestützt auf seine umfassende Lektüre der Weltgeschichte, Geologie und des Okkulten war, dass Rohöl – Petroleum – mehr als nur bildlich das Herzblut von Industrie, moderner Welt und modernem Blitzkrieg sei, dass es wahrhaftig eigenes dumpfes Leben und eigenen Willen besäße, als anorganisches Bewußtsein oder Unterbewußtsein, dass wir alle seine Marionetten oder Kreaturen seien und daß sein chemischer Geist die Entwicklung der modernen technischen Zivilisation gelenkt und sogar erzwungen habe.“ Thacker bringt es auf den Punkt, dass diese Geschichte uns zeigt, dass das Denken womöglich immer schon unmenschliche Wurzeln hatte.
Ähnlich beschreibt auch der Theologe Rudolf Otto in seiner klassischen Schrift „Das Heilige“ aus dem Jahre 1917 religiöse Erfahrungen. Er benutzt dazu den Begriff des „Numinosen“, die Grenzerfahrung des Menschen in der Konfrontation mit der Welt als etwas absolut Nichtmenschlichem, der Welt als dem „Ganz anderen“, dem „was im unsagbaren Geheimnis über aller Kreatur ist.“ Es ist eine widersprüchliche Erfahrung des Grauens und des Staunens, ein mysterium tremendum. Etymologisch ist das Wort „numinos“ mit Kants Begriff des Noumenons verwandt, führt Thacker weiter aus. „Kants Bekräftigung der Spaltung zwischen phaenomena (der Welt, wie sie sich dem Subjekt erscheint) und noumena (der unzugänglichen Welt-an-sich) zogen seine Untersuchungen tendenziell in Richtung der Ersteren und weg von den Letzteren.“

Spätestens hier stellt sich die Frage nach unserem Weltbild und unserem Bild vom Menschen. Thacker deutet darauf hin, dass es unser Weltbild ist, das darüber bestimmt, welches politische System wir haben und welches politische System für uns funktioniert. Ändert sich unser Weltbild (was momentan durchaus der Fall ist, Angesichts von Klimawandel, Corona und Co.), stellen sich zwangsläufig auch Fragen nach unseren politischen Strukturen.
Er zitiert den Staatstheoretiker Carl Schmitt mit: „Das metaphysische Bild, das sich ein bestimmtes Zeitalter von der Welt macht, hat dieselbe Struktur wie das, was ihr als Form ihrer politischen Organisation ohne weiteres einleuchtet,“ und fragt selbst im Anschluss: „Doch was geschieht, wenn wir als Menschen mit einer Welt konfrontiert werden, die radikal unmenschlich, unpersönlich und sogar gleichgültig gegenüber dem Menschen ist? Was geschieht mit dem Begriff der Politik angesichts der Möglichkeit, dass die Welt trotz aller Versuche, sie als eine Welt-für-uns zu gestalten – sei es durch die Theologie (souveräner Gott, souveräner König) oder durch die Wissenschaft (die Analogie zwischen Organismus und Staat) -, nur ihre Verborgenheit offenbart? In politischer Hinsicht ist die Unempfänglichkeit der Welt ein Zustand, für den wir wohl noch keine Sprache haben.

Horror des Lebens

„Was die Theologie nur implizit zugibt, macht das Horrorgenre explizit deutlich: Es gibt einen tiefen Riss im Herzen des Begriffes „Leben“,“ Thacker führt weiter aus: „Überlegen wir uns eine Hagiografie des Lebens im Verhältnis von Theologie und Horror: lebende Tote, Untote, Dämonen und Phantasmen.“ Wo und wann fängt Leben an? Wann und wie hört es auf? Auch der Philosoph Emanuele Coccia stellt aktuell in „Metamorphosen“ genau jene Frage nach den Formen des Lebens. Auch Coccias Ausführungen über Insekten, Eier und Kokons könnte man bei einer etwas anderen Lesart durchaus dem Horror-Genre zuordnen – während es bei ihm jedoch eher eine philosophische Gedankenreise durch die Schönheit der Vielfalt allen Lebens darstellt. Die Betonung liegt auf Leben.

Im Horror-Genre geht es vielmehr um den Tod. Sei es um lebende Tote, wie den Zombies oder den Untoten, die zumeist in Gestalt von Vampiren daherkommen. Doch auch dieser hat seine Möglichkeiten der Metamorphose: Fledermaus, Ratte und Wolf. Oder im anorganischen Bereich: Nebel und Rauch.
Dämonen bemächtigen sich menschlichen Körpern – zumeist bis zum Tode dieser. Während Geister eher als Phantasma daherkommen: Körperlose Tote aus dem Reich der Seelen, des Geistes, der Erinnerung.

All diese Figuren eint, dass sie eine quasi-lebendiger Widerspruch sind. „Der Zombie ist eine belebte Leiche, der Vampir ist der Zerfall der Unsterblichkeit, der Dämon ist gleichzeitig ein übernatürliches Wesen und ein niederes Tier und das Phantasma existiert durch Materialisation seiner Immaterialität. Diese Daseinsformen zeigen eine Grenze auf. Eine Grenze des Verstehbaren. Eine Grenze dessen, wie wir unser Leben verstehen. „Das individuelle Leben kann sterben. Aber was ist mit dem „Leben“ im Allgemeinen?“, fragt Thacker.

Sind wir und alles, was uns umgibt Untote? Totes, das wiedergeboren wurde. Und werden wir womöglich gar nicht wirklich sterben, sondern untot sein. Eingebunden in den fortlaufenden Fluss von vermeintlichem Leben und vermeintlichem Sterben? „Die eigentliche Frage ist daher nicht, ob die Welt endet, sondern wie sich dieser Vorstellungshorizont überhaupt denken lässt.“ Für Thacker laufen diese Gedanken auf einen Kernsatz hinaus: „Das Leben ist „nichts“ (nothing), weil es eben nie „etwas“ (some thing) beziehungsweise immer mehr als „eines“ (one thing) ist.“. Dieses philosophische Denken lehnt sich sehr stark an die Tradition der mystischen Theologie an, insbesondere der negativen Theologie. Der im neunten Jahrhundert lebende irische Gelehrte Johannes Scotus Eriugena formulierte eine der elaboriertesten Theorien des Göttlichen als „nichts“ (nihil). Im dritten Buch seines Werks „Periphyseon (Über die Einteilung der Natur, ca. 866-867) entwürft Eriugena eine Vorstellung der „göttlichen Finsternis“, nach der das Göttliche gerade aufgrund seiner superlativistischen Wesens nihil ist. Doch das Göttliche als Ungrund (Jakob Böhme) beinhaltet nicht nur die Negation oder den „göttlichen Abgrund“, sondern auch die Idee, dass das Göttliche gegenüber dem Menschen gleichgültig ist.

Dies würde auch eine Neuformulierung des Heideggerschen Satzes „Leben ist eine eigene Seinsart, aber wesenhaft nur zugänglich im Dasein“ nach sich ziehen. Thacker: „Ein Einstieg in diese Fragestellung wäre möglich, indem wir über das Nichtleben (ein Nichtleben, das nicht der Tod ist) und im weiteren Sinne über das Nichtsein (ein Nichtsein, das nicht nichts ist) nachdenken. Anders ausgedrückt: Die Herausforderung besteht darin, die Beziehung zwischen Leben und Sein als vermittelt durch die Negation zu denken. […] Das Problem ist, dass Leben als Begriff immer eine weitere Frage voraussetzen muss, welche das Sein betrifft. Die berüchtigte Frage „Was ist Leben?“ scheint neben der Frage „Was ist Sein?“ stets zu verblassen. Und doch wäre die bloße Idee eines Lebens-ohne-Sein eine Absurdität für die Philosophie…auch wenn das, wie wir gesehen haben, nicht auf den Horror zutrifft.“

ENDE TEIL III TEIL I TEIL II

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