Juni 2, 2021

Wissensbestien

„Tief in uns steckt ein Verlangen, das sich immer mehr verstärkt.
Das ist dieser angenommene Kern eines endlosen Verlangens,
das den rationalen Markt antreibt.“

David Graeber


Was wird nach dieser Unterdrückung während Corona-Zeiten geschehen? Nach dieser Zeit, in der wir nicht so Shoppen durften, wie wir es gewohnt waren. Nicht so Reisen, wie wir es wollten. Nicht so Feiern und Essen, wie wir es so lange getan haben. Nicht so arbeiten. Unser endloses Verlangen nach mehr, nach Weltaneignung, nach Verzehr, Konsum, Tätigsein, Wirken – alles unterdrückt. Wie wird all das wieder an Fahrt aufnehmen? Verlangsamt, ausgebremst und dennoch die ganze Zeit weiterhin da, als Verlangen? Als Verlangen nach Welt?

Wir verleiben uns die Welt ein. Über unsere Münder, unsere Augen und Ohren. Einerseits um zu leben, um zu überleben, um am Leben zu bleiben. Aber auch im Versuch, sie zu begreifen. Sie zu ergreifen. Dazu müssen wir sie zunächst begreifbar machen. Anfassbar. Zum Verstehen brauchen wir Standpunkte.
Das Um- und Verwandeln der Welt geschieht, um sie verstehen, um sie verschlingen zu können. Mit all unseren Organen, unserem Magen, Darm, wie auch unserem Hirn. Natürlich ist eine umgewandelte Welt nicht mehr die, die wir eigentlich verstehen wollten. Doch was war sie zuvor? Lebendiger? Organischer? Einfach anders?

In der Horror-Literatur wimmelt es von Grenzüberschreitungen. Portale, die nicht hätten geöffnet, heilige Orte, die nicht hätten aufgesucht werden dürfen (Lovecraft). Experimente, die nicht hätten stattfinden sollen (Frankensteins Monster, Die Fliege). Häufig erfolgt eine entsprechende Gegenreaktion: Monster, Wesen, Kreaturen die dann in die bis dahin vermeintlich heile Welt eindringen (Nightmare on Elm Street, Hellraiser). Zumeist müssen diese wieder gewaltvoll zurückgedrängt oder getötet werden. Doch zumeist kommen sie wieder. Weil wieder Grenzen überschritten wurden. Oder weil noch eine Rechnung offen war. Oder auch gänzlichst grundlos.

Gibt es überhaupt noch Grenzen, die wir nicht zu überschreiten bereit sind? Kommt es nicht einfach nur auf die richtige Gelegenheit an? Die richtige Versuchung? Was in unseren säkularen Gesellschaften ist heilig, nicht verhandelbar?

Internetfund. KünstlerIn unbekannt

Wenn wir ehrlich sind: Wir kennen solche Grenzen nicht mehr. Wir stellen uns hinter die Menschenrechte und sehen sie vor der eigenen Haustür mit Füßen getreten und im Mittelmeer versinken. Es werden Menschen mit Affen gekreuzt, Lebensräume anderer Lebewesen zerstört. Wir setzen auf Verhandlungen und werden gleichzeitig Zeugen von immer mehr Grenzüberschreitungen und Zerstörungen. Die Bestien sind erwacht, herbeigerufen vom forschenden, aneignenden und weltverwandelnden menschlichen Geist.

Welt- und Zeitenfresser

Unersättlich drängen wir immer weiter vor und ein in die Welt, die wir mit Leib und Seele verschlingen, verstehen und verändern wollen. Besser, schöner, reicher, achtsamer soll unser Leben sein. Auf jeden Fall anders als heute und als gestern. Dafür dringen wir sogar nicht nur räumlich und physisch immer weiter in und auf dem Planeten vor, sondern auch zeitlich und in unseren Geist.

Wir entwickeln vermeintlich antizipatorische Formen der Weltaneignung. Das was heute ist, reicht uns bei weitem nicht mehr – wobei wir das, was heute ist, noch nicht einmal in seiner ganzen Fülle fähig sind wahrzunehmen. Wir wären vollkommen überfordert, würden wir in all das, was uns bereits hier und heute umgibt, hineinspüren. Würden wir all das wirklich wahrnehmen. Fühlen. Fühlen, um wirklich zu verstehen.
Stattdessen richten wir unsere (Finanz-)märkte auf das Morgen aus. Auf Innovationen, die kommen werden. Auf Ideen, die zünden werden. Entdeckungen, die sicherlich in der Zukunft gemacht werden. Es werden Derivate, Futures eingesetzt, um die noch nicht eingetretenen Zukünfte einerseits finanzialisieren zu können und anderseits in quantifizierbare Risiken zu überführen, die gemanagt werden können.

Der Mensch begann nicht erst mit dem Fall der Berliner Mauer, Mauern einzureißen. Grenzen nicht mehr anzuerkennen. Womöglich ist das Ereignis des Mauerfalls, das mit den Grenzüberschreitungen in Ungarn seine ersten sichtbaren Momente erlebte, im Vergleich mit all den anderen Grenzüberschreitungen in der Menschheitsgeschichte kaum bis gar nicht erwähnenswert. Oder nur eine besondere Ausprägung. Wie lange existierte diese Mauer? Was waren diese Jahrzehnte im Vergleich zur gesamten, deutschen Geschichte?
Der Mensch zieht Grenzen, um andere Grenzen nicht mehr anzuerkennen. In wissenschaftlichen Arbeiten müssen Themen abgegrenzt, Experimente eingegrenzt, wiederholbar, nachprüfbar gemacht werden. Diese Grenzziehungen waren dabei immer gleichzeitig auch Grenzüberschreitungen, indem Zusammenhänge ausgeblendet, nicht gesehen (!) wurden und gesehen werden durften.
Bestehende, lebendige Verhältnisse und Vernetzungen wurden durchtrennt, um sie unter das Mikroskop legen zu können. So wie von den europäischen Mächten willkürliche Grenzziehungen auf dem afrikanischen Kontinent vorgenommen wurden, zwecks Aufteilung und Ausbeutung, ohne einem Verständnis für bestehende kulturelle und natürliche Zusammenhänge vor Ort.
Nirgends eine Grenze, die unverhandelbar war oder ist. Es bleibt weiterhin alles möglich. Die Grenzziehungen der einen, sind die Grenzüberschreitungen für die anderen.

Technologien sind ihrerseits immer auch Abgrenzungen. Maschinen, die für bestimmte Zwecke entwickelt werden. Die Waschmaschine wird zum Waschen gebaut. Nicht zum Fahren. Oder zum Saugen. Die Ingenieurskunst muss abgrenzen, eingrenzen, damit etwas auf eine bestimmte Art und Weise funktioniert. Bestimmte Winkel, bestimmte Druckverhältnisse, bestimmte Normen dürfen beim Bau einer Brücke nicht auftreten, sonst stürzt sie ein. Allerdings ist die auch nur dann der Fall, wenn mit bestimmten Materialien gebaut wird. Unter bestimmen Zeit-Regimen. Zu bestimmten Kosten. Grenzziehungen.
Grenzüberschreitungen auf Seiten der Natur und den Ländern, von denen die Materialien abgerungen werden müssen, die es zur Produktion braucht. Ein Smartphone, das plötzlich auch Kamera, Navigationsgerät, Musik-Player etc. ist, ist nicht nur funktional grenzüberschreitend sondern auch in seinem Herstellungsprozess.
So greifen vom Menschen gesetzte Grenzen im Zusammenspiel mit der Aneignung von natürlichen Ressourcen und wirken dabei grenzüberschreitend. Was wird dafür auseinandergerissen? Welche eigentlich unantastbaren Grenzen werden dabei überschritten?
Am deutlichsten kriegen wir diese Frage im Rahmen der planetaren Grenzen vor Augen geführt.


Grenzüberschreitungen

Die planetaren Grenzen des Stockholm Resilience Zentrums sind mittlerweile gute 10 Jahre alt. Sie zeigen, wie sich zentrale Grenzwerte wie die Frischwasserverfügbarkeit, Biogeochmische Fließbewegungen, Klimawandel, Meeressäuregrade, Ozonwerte, die Biosphäre mit ihrer Artenvielfalt und drei weiteren Bereichen auf der Erde seit den 1950er Jahren durch Einwirkung des Menschen verändert haben. Während die Werte, die sich im grünen Bereich bewegen, für Mensch und Planet lebenserhaltend sind, nähern sich die Werte über Gelb und Orange einem hohen Risiko für Mensch und Umwelt an. Insbesondere die Natriumwerte in Gewässern u.a. durch künstliche Düngung und die rapide abnehmende Artenvielfalt haben bereits die orange-roten Bereiche erreicht.
Während sich dort die Frage stellt, wie diese Entwicklungen wieder eingefangen werden können, stellt sich in den anderen 7 Bereichen die Frage, wie die Entwicklungen verlangsamt oder sogar gestoppt werden können.

The nine planetary boundaries. Credit: J. Lokrantz/Azote based on Steffen et al. 2015.

Dabei sind es nicht allein neun Grenzüberschreitungen, die es aufzuhalten bzw. zu unterbinden gilt. Jeder der planetarischen Grenzen kann nur deshalb überschritten werden, weil auch andere Grenzüberschreitungen stattfinden. Die Zerstörung der Integrität der Biosphere hat mit Landnahme, wie auch mit dem Einleiten von Giftstoffen, Überfischungen etc. zu tun. Je mehr wir diese Grenzen anfangen zu vermessen, umso mehr scheinen sie uns abhanden zu kommen. Das Vermessen und Bepreisen der Welt hat uns schon zuvor maßlos werden lassen.
Man kann durchaus sagen, dass uns der vermeintlich messbare Fortschritt hat Grenzen überschreiten lassen. Im Guten, wie im Schlechten. Das Wissen, das wir heute über die Natur haben, haben wir zum Teil auch mit ihrer Zerstörung erkauft. Wenn wir zukünftig diese Grenzen bewahren wollen, müssen wir uns zwangsläufig auch die Frage danach stellen, was Wirtschaft, was Wissenschaft, was unsere Gesellschaften auf diesem Planeten tun dürfen. Was dürfen wir wissen wollen? Auf welche Arten und Weisen dürfen wir die Welt erkunden? Diese Frage betrifft die Wissenschaft wir auch die Tourismusindustrie. Doch unser übergriffiges, grenzüberschreitendes Denken und Handeln betrifft nicht nur die nicht-menschliche Welt. Es betrifft auch andere Kulturen (man braucht dazu nur die aktuelle Diskussion über unsere kolonialen Vergangenheit und deren politische, wirtschaftliche, kulturelle und psychologische Aufarbeitung betrachten), denen wir unsere „Zivilisation“, unseren grenzüberschreitenden „Fortschritt“ gebracht haben. Doch auch dort hört unser gewalt- und machtvolles Handeln nicht auf.

Sex und Macht

Nicht umsonst sind in den letzten Jahren vier weitere Themen stark in unser Bewusstsein vorgedrungen. Zum einen sind es die Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche, die zu Wellen von Austritten geführt hat.
Auch hier handelt es sich eindeutig um Grenzüberschreitungen. Menschen mit Macht, die sich im Recht glaubten. Die sich qua ihres Amtes (Grenzziehung) dazu befähigt und berechtigt sahen, so zu handeln, wie sie es taten (grenzüberschreitend). Keine Einzelfälle. Strukturen (Grenzziehungen), die das, was geschah ermöglichten und am Ende sogar deckten bis es nicht mehr ging.

Nahezu parallel dazu wurden immer wieder Fälle von Kindesmissbrauch publik – sei es auf Campingplätzen, im Zuge der Erstellung oder dem Besitz von Kinderpornografie oder anderer, schrecklicher Umstände. Auch hier waren es Menschen, die sich in der Lage sahen, Grenzen zu überschreiten und dies auch taten. Auf Kosten der schwächsten Mitglieder, die eine Gesellschaft besitzt: Ihre Kinder.
In beiden Fällen, im Falle der Kirche, wie auch im Falle der Pornografie handelt es sich um die bewusste Überschreitung von Tabus und Grenzen. Die Gründe sind sicherlich vielfältigster Natur: Eigene Missbrauchserfahrungen, Traumata, Machtfantasien, zutiefst empfundene Triebe und Zwänge, Druck aus einer Gruppe heraus auf die einzelnen Mitglieder und viele mehr. Am Ende bleibt es dabei, das Leid durch Grenzüberschreitungen zugefügt wurde.

Dies ist auch der Fall im dritten Bereich der Grenzüberschreitung: #metoo. Frauen, die massive Gewalt und Missbrauch erlebten. Die Opfer von physischen Übergriffen und sexuellen Straftaten wurden. Straftaten, die ebenfalls aus einem Gefühl von Unantastbarkeit aus Macht- und Sexualphantasien heraus begangen wurden – auch hier, wie in der Kirche, zumeist von Männern.

Diffuser, dafür aber nicht weniger gewaltvoll und brutal sehen die Grenzüberschreitungen im Falle von #blacklivesmatter aus. Sofort kommt einem der polizeiliche Übergriff mit Todesfolge auf George Floyd in den Sinn, die anschließenden Proteste und der Gerichtsprozess. All die anderen Übergriffe in Form von Verweigerungen von Rechten, die Benachteiligung bei medizinischer oder schulischer Versorgung haben zwar nicht sofort physische Folgen oder eine mediale Aufmerksamkeit, wirken sich aber langfristig auf die körperliche und psychische Gesundheit der Betroffenen aus. Grenzüberschreitungen wirken in beide Richtungen: Indem man den anderen etwas aufzwingt, was sie nicht wollen oder indem man ihnen etwas entzieht oder vorenthält, das sie brauchen. Koloniales Vorgehen. Ein Vorgehen und eine Gefühlswelt, die wir unter Corona ein paar Monate erleben und erleiden mussten – nichts im Vergleich zu dem, was anderen Menschen, Kulturen und Lebewesen durch (ausgewanderte) Europäer seit Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten erleiden mussten.
Während wir landläufig anstreben, weniger Grenzen zu haben, Menschen mehr Bewegungsfreiheiten zu gewährleisten, zu helfen und Nationalismen hinter uns zu lassen, scheinen Grenzen und Grenzüberschreitungen an anderen Stellen von elementarer Bedeutung zu sein, um uns genau das zu ermöglichen.

Doch genauso wie diese Grenzen auf der individuellen Ebene, gegenüber Frauen, Kindern und Männern klar sein sollten und wir bei ihrer Einhaltung einerseits Fortschritte, aber auch massive Rückschritte erleben, scheinen sie uns insbesondere auf der planetaren Ebene abhanden gekommen zu sein. Nachdem wir es geschafft hatten, die Sklaverei vor der eigenen Haustür abzuschaffen, den Frauen und Kindern mehr Rechte zuzugestehen, so wird es immer deutlicher, dass diese Errungenschaften nicht für alle Frauen und Kinder auf der Welt galten, ja dass wir sie für unsere Gesellschaft womöglich zunächst nur einführen konnten, solange sie in anderen Ländern nicht zu vehement eingefordert wurden.
Auch bei uns gibt es mittlerweile wieder Kräfte, die diese Entwicklungen gerne wieder zurückschrauben wollen. Dabei sind #metoo und die Missbrauchsfälle in der Kirche lediglich Beispiele dafür, welche Kräfte im Hintergrund walten. Es sind vermutlich die gleichen Kräfte, die auch auf der gesellschaftlichen Ebene dafür sorgen, dass wir andere Grenzen nicht anerkennen. Auf planetarer Ebene übergriffig und grenzüberschreitend sind. Andere Lebewesen in ihrer Würde, in ihren Bedürfnissen auf unversehrten Lebensraum nicht anerkennen.

„Wir fügen Tieren und Bäumen rohe Gewalt zu. Dieser Stuhl war früher ein schöner, lebendiger Baum – wir haben ihn auf eine grausame Art und Weise gefällt, zersägt, getrocknet und in Form gebracht. (Natürlich, der Baum empfindet wahrscheinlich nichts, oder zumindest leben wir in diesem Glauben.) Das Bedrohliche nahezu aller Horrorfilme besteht darin, dass sich die Natur umkehrt und das die wichtigen Werkzeuge, die wir für den Umgang mit der Natur hervorgebracht haben, plötzlich von jemand anderem – üblicherweise einem Verrückten, einem „tierischen“ Menschen oder einem Werwolf, einem Vampir, einem Halbmenschen – dazu verwendet werden, uns anzugreifen.
Ein Beispiel dafür ist das Texas Chainsaw Massacre.“

Tomáš Sedláček

Ähnlich wie die übergriffigen Männer im Falle von #metoo, haben wir uns entweder emotional von unserem Wirken abgekoppelt, lassen andere für uns handeln oder empfinden sogar eine gewisse Lust an unserem kraft- und machtvollen, zerstörerischen Handeln. Ein Handeln, dass am Ende nicht allein Menschen anderer Kulturen verletzt, sondern auch andere Lebewesen und ganz am Ende auch uns selbst, wenn wir uns dadurch unserer Lebensgrundlagen berauben.

Flucht ans Ende der Welt

Dieses grenzüberschreitende, übergriffige Handeln und Denken bekommen wir allerdings nicht mit Solarpanelen, Windrädern oder Elektroautos in den Griff. Ganz im Gegenteil: Trotz aller Versprechen, sind Windräder, Wasserkraftwerke und Co. nichts anderes als eine Verlängerung und Ausweitung unseres übergriffigen Agierens. Wir wollen noch schneller, noch mehr, noch länger. Das Schlimmste am übergriffigen Handeln wäre, wenn uns die Energie ausginge. Wie mir ein sehr geschätzter Kollege unlängst mitteilte, neigen wir dazu Energy mit Power zu verwechseln.

Während wir also gerade Gas-Pipelines, Windräder und Solarpanele bauen, und wir dabei der Meinung sind, unsere nachhaltige, ökologische Energieversorgung zu sichern, geht es uns womöglich einzig und allein um Power, um Macht. Darum, weiterhin alles und jeden auszubeuten, anzueignen, zu missbrauchen und dann gelangweilt fallen zu lassen, wenn wir die Kraft und Energie in uns aufgenommen haben.
Das alles sehen wir mit Tränen in den Augen, einem blutenden Herzen, umhüllt von unserer digitalen Schutzhülle und versorgt durch Maschinen, Nutztiere und Menschen, die noch mehr als wir darunter leiden, was wir dem Planeten antun.

Wir versuchen immer schneller vor dem Schmerz zu fliehen, den wir verursachen. In die Welt der digitalen Technologien, der künstlichen Intelligenzen und angereicherten Realitäten. Angereicherte Realitäten, weil wir vor der Wirklichkeit Angst haben.
Was wir brauchen ist jedoch ein mitfühlendes, Sich-Öffnen. Erst wenn wir in die Welt hineinspüren und uns im anderen fühlen, können wir auch dessen Grenzen wieder anerkennen. Erst, wenn wir nicht mehr sezieren, aufschneiden und zerbrechen – sei es mit dem Geist, der Knochensäge oder ätzenden Chemikalien, kann Heilung einsetzen. Solange wir weiterhin die Welt zerlegen, in sie physisch und mit bestimmten geistigen Operationen in sie eindringen, werden wir Grenzen überschreiten, die es braucht, damit Leben lebendig sein kann, damit Heilung stattfinden kann.

Wie schaffen wir es, uns gegenseitig in Ruhe die Zeit zur Heilung zu geben?
Wie können wir von Grenzüberschreitungen ablassen, die im Übermaß zerstörerisch wirken?
Was sollten wir los- und hinter uns lassen?
Wie können wir diese #lassenskraft entwickeln?
Sind diese Fragen ihrerseits grenzüberschreitend? Welchen Schaden richten sie an?

Womöglich überfordern wir uns aber auch maßlos damit, uns ein- und zu begrenzen. Der Geist ist aus der Flasche. Unser Wissenwollen, unsere Neugier unser Hunger ist zu groß. Vielleicht können wir nicht mehr hinter dieses Verlangen zurück. Nicht ohne fremder Hilfe. Womöglich braucht es eben jene machtvollen Gestalten, jene Wesen aus den anderen Welten, deren Grenzen wir nicht respektiert haben. Jene Wesen, die wir geweckt haben. Wie auch immer sie in Erscheinung treten werden. H.P. Lovecraft gab uns Ideen davon, mit welchen Kräften wir es zu tun haben werden. Er ist es immer noch wert gelesen zu werden. Im Stillen. Allein mit sich selbst. Auch eine Weltflucht. Hinein ins Ende. Hineinspürend, in die unheimliche Welt hinter der menschlichen Welt. Hinein in die schrecklich-schöne, mehr-als-menschliche Welt.

„Ich glaube, die größte Barmherzigkeit dieser Welt ist die Unfähigkeit des menschlichen Verstandes,
alles sinnvoll miteinander in Beziehung zu setzen. Wir leben auf einer friedlichen Insel der Ahnungslosigkeit inmitten schwarzer Meere der Unendlichkeit, und es war nicht vorgesehen, dass wir diese Gewässer weit befahren sollen.
Die Wissenschaften steuern alle in völlig verschiedene Richtungen und sie haben uns bislang nur wenig Schaden zugefügt, doch eines Tages wird uns das Aneinanderfügen einzelner Erkenntnisse so erschreckende Perspektiven der Wirklichkeit und unserer furchtbaren Aufgabe darin eröffnen, dass diese Offenbarung uns entweder in den Wahnsinn treibt oder uns aus der tödlichen Erkenntnis in den Frieden und den Schutz eines neuen dunklen Zeitalters flüchten lässt.“

H.P. Lovecraft

Quellen:

https://www.stockholmresilience.org/research/planetary-boundaries/planetary-boundaries/about-the-research/the-nine-planetary-boundaries.html

Tomáš Sedláček/David Graeber (2015) Revolution oder Evolution? Das Ende des Kapitalismus? HANSER Verlag München

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